Pegel 1173: Ein Fluss sprengt die Prognosen
Stetig prasselt der Regen. Finsternis. Kein Stern am Himmel. Mit geschärften Sinnen liegen die Menschen in ihren Betten. Lauern.
„Man schläft nicht gut, hat die Fenster offen. Und hört dieses Wasser plätschern. Immer. Und dann schaut man raus und sieht nichts. Man weiß nicht, wie hoch es tatsächlich ist.“
Die Nacht von 2. auf 3. Juni 2013 verbringt nicht nur Isabella Fröschl in Alarmbereitschaft.
Auch Sandra Haider schläft kaum in dieser Nacht. „Ich bin in der Nacht rausgegangen, zum Bleicherbach. Und hab mir gedacht: Du hörst den Bach nicht mehr. Das ist gefährlich. Wenn er nicht fließen kann, staut die Donau zurück. Das ist wie ein Tier, das sich lautlos anpirscht.“
In die alte Mühle von Franz und Karin Binder war das Wasser schon am Sonntag eingedrungen. „Da ist es so ruhig. Dann hörst du im Haus: gluck, gluck, gluck, gluck, gluck. Wie sich Hohlräume in den alten Mauern füllen. Echt gespenstisch. Das höre ich immer noch, das gluck, gluck, gluck, gluck,“ erzählt Karin Binder ein halbes Jahr später.
Freitag, 31. Mai 2013. Pegelstand Wilhering: 535 Zentimeter. Ein regnerischer Monat geht zu Ende. Seit Beginn der genauen Wetteraufzeichnungen vor 150 Jahren hatte es in Österreich nur in zwei Jahren im Mai mehr geregnet: 1962 und 1965. Die Böden können kaum noch Wasser aufnehmen. Und es regnet unablässig weiter.
Reinhard Enzenebner, Gruppenleiter beim Hydrografischen Dienst des Landes Oberösterreich, beobachtet laufend die Prognosen der Wasserstände an Donau und Inn. Noch in der Früh zeigen die vorausgesagten Pegelstände keine Ausschläge, die auf ein Extremereignis hinweisen. Nur wenige Stunden später werden die Wetterprognosen revidiert: Für Oberösterreich sind weitere Starkregen angesagt. Mehrere Tiefs verursachen eine höchst seltene und komplexe Wettersituation über Mitteleuropa.
Am Abend melden Medien erste Hochwässer in Bayern.
Samstag, 1. Juni 2013. Pegelstand Wilhering: 637 Zentimeter. Reinhard Enzenebner schreibt den ersten Hochwasserbericht: „Durch die bereits jetzt stark erhöhte Wasserführung rechnen wir mit starken Anstiegen in den heutigen Abend- und Nachtstunden vor allem an den oö. Hauptgewässern Inn, Donau, Traun und Enns.“ Es ist 7.00 Uhr früh.
Sonntag, 2. Juni 2013. Pegelstand Wilhering: 855 Zentimeter. In Ottensheim erwacht Isabella Fröschl bereits um 5.45 Uhr. Die Donau liegt schon auf einer Höhe mit der Uferpromenade. Eine Stunde später heult die Feuerwehrsirene. Um 9.30 Uhr öffnet Isabella Fröschl wie jeden Tag ihr Caféhaus Casagrande. Wasser und Regen schrecken sie nicht, erzählt sie. Sie ist damit aufgewachsen. Sie räumt lediglich die Gartenmöbel weg und hört aufmerksamer Radio als sonst. Ein normaler Tag. Fast normal. „An solchen Tagen, wo Hochwasser kommen könnten, haben wir einen besonders lebhaften Betrieb hier herunten.“ Von der breiten Fensterfront des Cafés blicken die Gäste auf die etwa 70 Meter entfernte Donau, die Richtung Linz strömt.
Das Gasthaus Hofmühle von Franz und Karin Binder ist an diesem Sonntag ebenfalls geöffnet. Karin Binder ist mit ihrer Tochter Sofie alleine zu Hause, ihr Mann Franz besucht mit Sohn Lorenz das Erzbergrodeo in der Steiermark. Um etwa 7.00 Uhr früh läutet es an der Haustüre. Feuerwehrleute informieren Karin Binder über das drohende Hochwasser. Sie ruft ihren Mann an und informiert die Dauermieter ihres Campingplatzes. Dann räumt sie das Zimmer ihrer Tochter. Möbel, Kleider, Musikinstrumente: Alle Habseligkeiten schaffen die beiden vom Erdgeschoß in den ersten Stock der 200 Jahre alten Mühle an der Rodl, den der Rest der Familie bewohnt. Das Moped, die Rasenmäher und die ausbaubaren Elektrogeräte des Gasthauses stellen sie zur höhergelegenen Bushaltestelle. Vom Wasser werden sie dort nicht verschont bleiben.
Die Mannschaft der örtlichen Feuerwehr ist inzwischen mit den ersten Schutzmaßnahmen beschäftigt: Sie befüllt Sandsäcke und liefert sie aus, informiert Besitzer gefährdeter Häuser und versorgt sie mit Pumpen, stellt einen mobilen Damm zum Schutz des Hafenviertels an der Donau auf.
Über den Ort hat sich eine besondere Stimmung gelegt. Eine Abwechslung im Alltag, die für prickelnde Anspannung sorgt, aber nicht als bedrohlich erlebt wird. Noch nicht. Sonntagsspazierer holen ihre Gummistiefel aus den Kellern, gehen im strömenden Regen „Hochwasser schauen“ und fotografieren die überfluteten Bereiche: Die ins Wasser reichende lange Rutsche am Rodlgelände. Die Bäumchen an der Donaulände, die sich gegen den reißenden Fluss stemmen. Das ist alles noch nicht ungewöhnlich in der Donaugemeinde Ottensheim, die jahrhundertelange Hochwassererfahrung hat. 2002 war die Donau zuletzt über die Ufer getreten.
Sonntagmittag veröffentlicht ein Mitarbeiter des hydrografischen Dienstes einen weiteren Hochwasserbericht: „Somit werden die Wasserstände in Schärding und Linz aus jetziger Sicht über den Wasserständen von 2002 liegen.“ Das Hochwasser 2002 hatte Ottensheim bei weitem nicht so stark getroffen wie die Donaugemeinden östlich von Linz. Die Ottensheimer stellen sich also auf ein ähnliches Hochwasser ein, wie sie es vor elf Jahren erlebt hatten. Sie wissen, was sie in Sicherheit bringen müssen. Also räumen die Bewohner hochwassergefährdeter Häuser ihre Keller und Erdgeschosse und sichern ihre Türen mit Schaltafeln und Sandsäcken.
Auch Sandra und Ignaz Haider bereiten sich auf das Hochwasser vor. Mit Freunden räumen sie das gesamte Erdgeschoss aus: Die Wohnung der Schwiegereltern, die Wirtschaftsräume und die Garagen. Fahrräder, Waschmaschine und Sofa – der gesamte Hausrat wird auf den Balkon im ersten Stock, den Dachboden und bei Bekannten verteilt. Freunde besorgen ein Notstromaggregat und Pumpen.
Isabella Fröschl sichert gemeinsam mit ihren Helfern Lüftungsschlitze und Türen mit Schaltafeln und Sandsäcken: „Man vergisst, wie viele Türen man auf einer Ebene hat. Man glaubt immer, die Vordertür ist das Wichtigste.“ Bald gibt es keine Sandsäcke mehr.
Um 22.00 Uhr prognostiziert der hydrografische Dienst einen Höchststand von 920 Zentimeter beim Pegel Linz. Alle vier bis sechs Stunden gehen die Hochwasserberichte der Landesexperten an das Landesfeuerwehrkommando, das diese wiederum an die örtlichen Feuerwehren weiter leitet. Der Pegel Linz gilt als offizieller Bezugspegel für Ottensheim, das zehn Kilometer donauaufwärts liegt.
So geht der Sonntag mit viel Arbeit und wenig Schlaf in den Montag über.
Das Wasser steigt und steigt.
Montag, 3. Juni 2013. Pegelstand Wilhering: 1048 Zentimeter. Um 15.00 Uhr versammelt sich Familie Fröschl zum traditionellen Kaffee: Isabella, ihre Eltern Maria und Gottfried, ihr Sohn Sebastian. Isabella wird heute 49 Jahre alt. Sie bekommt Blumen. Feierlaune kommt heute keine auf. Der Wohnbereich liegt neben der Backstube des Betriebs. Fünf Stufen höher als das gegenüberliegende Café. Sie warten.
„Um 16.00 Uhr haben wir dann gewusst, auf was wir warten.“ Die Mutter bemerkt als erste, dass Wasser eintritt. „Man denkt, es kommt bei der Tür rein. Aber dass es zwischen Fliesenfugen und der Hausmauer hereinkommt, denkt sich kein Mensch.“ Isabella Fröschl ruft Freunde und Bekannte zu Hilfe. „Und dann haben wir geschöpft. Und geschöpft und geschöpft.“ Zwölf Stunden lang. Es gilt, die wertvollen Geräte in der Backstube zu retten.
„Ich habe gespürt, es gibt irgendwann einmal einen Punkt, wo alles anders sein wird. Und wo alles anders ist. Ab dem Zeitpunkt hat sich ein Panzer rund um mich aufgebaut. Ein Gefühlskältepanzer. Dann war nichts mehr. Dann habe ich nur noch funktioniert.“ Zwei Wochen wird es dauern, bis Isabella Fröschl diesen Panzer wieder ablegt.
Nach zwei Tagen des Räumens und Verstauens überfällt Karin Binder am Abend ein Schüttelfrost. „Ich hab gedacht: Was ist jetzt los? Werde ich jetzt auch noch krank? Dann bin ich draufgekommen, dass ich mich so fürchte.“ Sie beschließt, gemeinsam mit ihrer Tochter Sofie zu ihren Eltern zu ziehen. Franz fährt die beiden mit der Zille zum Auto. Er bleibt mit Sohn Lorenz alleine in der alten Mühle zurück. Über eine Leiter gelangen sie in den ersten Stock. Der erst wenige Monate zuvor fertig gestellte Hochwasserschutz ist längst überflutet. Das Gasthaus, die vermieteten Büros, der Campingplatz, das Kraftwerk, der Tennisplatz und das Erdgeschoß des Wohnhauses stehen unter Wasser. Die schwere und teure Steuerungsanlage des Kraftwerkes hatte Binder mit Hilfe von Feuerwehrleuten ausgebaut und auf die Kraftwerksanlage gestellt. Das sollte nicht reichen.
In der Schaltzentrale des hydrografischen Dienstes des Landes OÖ herrscht Hochbetrieb. Vier bis sechs Mitarbeiter sind rund um die Uhr im Einsatz. Sie beobachten Wasserstände und Prognosen, schreiben Hochwasserberichte. Pausenlos läutet das Telefon. Bewohner überfluteter Häuser fragen, wie hoch das Wasser noch steigen wird. Journalisten bitten um Interviews. Die Stromversorgung des Pegel Linz fällt aus, die Daten müssen nun händisch ins Computersystem eingegeben werden.
Sandra Haider lebt mit ihrem Mann Ignaz und ihren drei Kindern Greta, Vitus und Xaver im ersten Stock des Gebäudes. Im Erdgeschoß befinden sich die Wirtschaftsräume und die Garderobe. Das Stiegenhaus ist verschalt. Sandra Haider sieht immer wieder nach unten, fotografiert und filmt. Sieht, wie das Wasser zuerst durch die Heizungsrohre eindringt. Nicht lange, dann kommt es durch die Steckdosen, den Sicherungskasten und ganz einfach durch die Wand. „Ich bin oben gestanden und wollte filmen, wie das Wasser runter rinnt. Und in dem Moment drückt es von außen die Tür ein. Wie eine Flutwelle ist das Wasser reingeschossen.“ „Ich habe einfach gezittert, die ganze Zeit. Weil ich gesehen habe, wie gefährlich es eigentlich ist. Ich hab mir nur gedacht: Was wäre, wenn ich jetzt weiter unten gestanden wäre?“
Die prickelnde Anspannung der ersten Stunden ist einer bedrohlichen Stimmung gewichen. Wasser aus dem überlaufenden Kanal überflutet Bereiche abseits der Flüsse. Zahlreiche Keller und einige Straßen stehen unter Wasser. Unzählige Helfer kämpfen darum, einen drohenden Dammbruch zu verhindern. Auf den Straßen fahren nur wenige Autos. Der öffentliche Verkehr ist eingestellt. Die Schulen sind geschlossen. Tag und Nacht knattern die Rotoren der über den Ort fliegenden Hubschrauber.
In ihrer Backstube kämpft Isabella Fröschl mit ihren Helfern darum, die Geräte zu retten. Sie schöpfen weiter: „Wir haben nur geschöpft, vom Boden auf, zum Fenster raus. Und wenn du die Hand rausgehalten hast, beim Fenster, warst du schon im Wasser.“ „Es war, als würdest du in der Donau stehen und ein Loch graben wollen. Das funktioniert eigentlich nicht wirklich“, erinnert sich Helferin Dodo Schuster. Isabella Fröschl muss Prioritäten setzen und entscheidet sich für ihren Ofen – das Herz der Backstube. In der Helferschar findet sich ein Elektriker, der die Ventilatoren ausbauen kann. Den Motor kann er nicht ausbauen. Ihn zu lösen, braucht es einen speziellen Kniff. Es ist 2.00 Uhr früh. „Da habe ich gedacht: Ist eh egal, ruf ich beim Hersteller in Deutschland an.“ Sie hat Glück, der Hersteller geht ans Telefon und kann helfen. Dann gibt es Probleme mit Belüftungselementen im Ofen. Wieder hat sie Glück. Der Techniker, der 15 Kilometer entfernt in St. Martin im Mühlkreis lebt, ist erreichbar. „Sag ich: Ich brauch dich ganz dringend. Er sagt: Isabella, ich komme gleich. Es dauert ein bisschen, weil so viel Wasser rundum ist, aber ich komme gleich.“
Eine Achterbahn der Gefühle.
Das Wasser steigt weiterhin. Prognostiziert war der Höchststand für Montag, 12.00 Uhr Mittag. Tatsächlich stieg das Wasser in Ottensheim bis etwa 6.00 Uhr früh am Dienstag. Hydrologe Reinhard Enzenebner sieht die Verspätung durchaus als günstig für die Betroffenen. Da bleibe mehr Zeit.
In der alten Mühle bringen Franz Binder und Sohn Lorenz weitere Habseligkeiten in Sicherheit. Strom gibt es schon lange keinen mehr, sie arbeiten im spärlichen Licht ihrer Taschenlampen und Handys. Eine Autobatterie haben die beiden in ein Ladegerät für die Handys umfunktioniert. Not macht erfinderisch. Das Wasser steigt regelmäßig, um beinahe eine Stufe in der Stunde. Es kommt dem ersten Stock gefährlich nahe. Gegen Mitternacht legt sich Binder nieder und stellt den Wecker auf 3.00 Uhr früh, „damit ich nicht absaufe.“ Als er wieder aufsteht, ist nur noch eine Stufe über Wasser. Es steigt nun aber weniger stark. „Ich hab mir immer eingeredet: Nein, das gibt es nicht, das kann nicht sein. Das geht sich aus.“ Gegen 6.00 Uhr hört das Wasser endlich auf zu steigen. Es reicht nun fast bis zur Decke des Erdgeschosses. „Das war arschknapp dran“, sagt er ein halbes Jahr danach und lacht.
Ein halbes Jahr später erinnert sich Reinhard Enzenebner noch gut an die zahlreichen Anrufer aus der Region, die mitteilten, dass das Wasser immer noch steige. In Linz war der Scheitelpunkt gegen 6.00 Uhr früh erreicht worden, nur wenige Zentimeter höher als er 32 Stunden zuvor prognostiziert worden war. Zwischen 50 und 70 Zentimeter höher stieg das Wasser hingegen im Bereich des Eferdinger Beckens, erinnern sich zahlreiche Betroffene. Augenzeugen berichten, dass die Begleitgerinne der Donau flussaufwärts geflossen wären. In die falsche Richtung. Jene, aus der immer noch Wassermassen nachströmten. Günther Reichel, Experte für hydrologische Analysen und Modellierungen, erklärt diese Phänomene vor allem mit der Engstelle durch die Urfahrer Wände zwischen Ottensheim und Linz. Dadurch sei es zum Rückstau gekommen. Er erarbeitet derzeit eine Lamellenprognose, anhand derer zukünftig auch die Wasserhöhe im Eferdinger Becken möglichst zuverlässig vorausgesagt werden kann.
Sandra Haider legt sich auf die Couch im Wohnzimmer. Schlafen kann sie nicht, sie döst vor sich hin. Noch Monate später erinnert sie sich an das Gefühl der Sicherheit, das sie trotz der Ausnahmesituation empfand: „Ich hab mir gedacht: Es sind Leute da und wenn wir überschwemmt werden, die helfen uns trotzdem. Es war ein Gefühl der Geborgenheit.“
Mit Hilfe einer Tauchpumpe, die die Feuerwehr gegen 4.00 Uhr früh liefert, kann der Wasserstand in der Backstube stabilisiert werden.
Als sich auch hier das Erreichen des Höchststandes abzeichnet, schicken die Helfer Isabella Fröschl ins Bett. Sie putzt sich die Zähne, zieht sich ihren Pyjama an und schlüpft unter die Bettdecke. Um 15 Minuten später wieder aufzustehen. Und dennoch. Für sie ist ein neuer Tag angebrochen, der wieder Hoffnung gibt.
Dienstag, 4. Juni 2013. Der Höchststand ist erreicht. 2,40 Meter hoch steht das Wasser in den Häusern der Haiders und der Binders. Im etwas höher gelegenen Gasthaus sieht man heute noch die feine Linie, die das Wasser auf seinem höchsten Punkt hinterlassen hat: Bei etwa 1,60 Meter. Die Hochwassermarke im Café Casagrande ist auf 1,40 Meter Höhe eingezeichnet. Der Pegelhöchststand in Wilhering liegt bei 1173 Zentimeter. Laut derzeitigen Berechnungen liege das über HQ300, sagt Hydrograf Reinhard Enzenebner im Jänner 2014. Ein Hochwasser also, dass sich in dieser Höhe wahrscheinlich nur alle 300 Jahre ereignet. Die Wassermengen sind mit jenen des historischen Extremhochwassers von 1954 vergleichbar.
Langsam sinkt das Wasser. Es gilt abzuwarten.
Sandra Haider bringt ihre Kinder zu deren Großmutter nach Linz. „Ich hab gewusst, es ist nicht mehr gefährlich jetzt kann ich mich von ihnen trennen. Und hab gedacht: Jetzt müssen wir aufräumen, jetzt stehen sie im Weg.“ Auf der Fahrt sieht sie erstmals das Ausmaß des Hochwassers, da wird ihr klar: „Um Himmels willen, das sind ja nicht nur wir! Es ist nicht unsere persönliche Katastrophe, da sind noch sehr viele mehr betroffen.“
Mittwoch, 5. Juni 2013. Pegelstand Wilhering: 951 Zentimeter. Als sich die Donau zurückzieht, lässt sie zum Teil meterhohen Schlamm zurück. 2,32 Meter werden im Donaupark gemessen. Landwirte, Bauunternehmer und Rekruten des Bundesheeres arbeiten sich mit ihren Traktoren und Baggern durch den Schlamm, der sich wie eine Mauer vor ihnen auftürmt. Teils verfrachten sie ihn in die Donau zurück, teils wird er auf verschiedenen Freiflächen deponiert. Auch in den Häusern an der Donau ist Schlamm zurück geblieben. Helfer arbeiten sich mit der Schaufel durch die weiche Masse und tragen sie in Kübeln ins Freie.
Schlamm hat sich am Areal der Binders keiner abgelagert, dennoch ist hier alles mit einer grauen Schmutzschicht bedeckt. Mit vielen Helfern wird geputzt, repariert und entsorgt, was nicht zu reparieren ist. Den größten Schaden hat das Wasser am Kraftwerk angerichtet. Als es im Herbst 2013 wieder in Betrieb genommen wird, ist manches immer noch ein Provisorium. Die Lüftungsanlage des Gasthauses, Küchengeräte, Böden und Wände müssen repariert und ausgetauscht werden. Im folgenden Winter heizen die Binders ihre gesamte Anlage mit dem Holzofen, da der Gaskessel ersetzt werden muss. Die alte Mühle hat schon viele Hochwasser erlebt. „Die Mauern waren vorher schon schief, jetzt sind sie noch schiefer“, meint Karin Binder.
Donnerstag, 6. Juni 2013. Pegelstand Wilhering: 850 Zentimeter. Erst heute kann Isabella Fröschl die Außentüren Richtung Donau wieder öffnen. Der Weg zum Café ist mit Schlamm versperrt. Ein zu Hilfe gerufener Landwirt schiebt ihn mit seinem Traktor beiseite. Jetzt erst sieht sie erstmals, was das Wasser in ihrem Café angerichtet hat. „Verwüstung pur“, ist alles was sie im Nachhinein noch dazu sagen kann.
Eine Woche lang räumen die Haiders, Fröschels und Binders mit ihren Helfern auf, putzen, reparieren und entsorgen.
Die Frage aufzuhören und wegzuziehen stellen sie sich nicht.
Isabella Fröschl steht bereits nach einer Woche wieder in ihrer Backstube. Nach zwei Wochen startet sie den Gastgartenbetrieb des Cafés. Am 28. Oktober 2013 eröffnet sie ihr gänzlich neu gestaltetes Café.
Karin und Franz Binder eröffnen ihr Gasthaus drei Wochen nach dem Hochwasser wieder. „Wenn du vom Betrieb lebst, musst du schauen, dass wieder was reinkommt,“ sagt Franz Binder. „Außerdem haben uns die Leute so getrieben. Die Stammgäste“, ergänzt seine Frau. Im Frühling 2014 wollen sie umfassend renovieren. Schritt für Schritt arbeiten sich die beiden wieder an den Normalzustand heran.
31. Jänner 2014. Nach zwei ungewöhnlich trockenen Monaten führt die Donau seit Wochen Niederwasser. Pegelstand Wilhering: 285 Zentimeter. Fast neun Meter niedriger als nur wenige Monate zuvor.
„Pegel 1173" schildert die Entwicklung des Hochwassers beginnend von den ersten Warnungen über den unerwarteten Höchststand in der Nacht von 3. auf 4. Juni 2013 bis hin zum Rückgang des Wassers.
"Von der unvorstellbaren Kraft des Wassers“ veranschaulicht den Kampf um die Sicherung des Dammes vor der Siedlung Schlosswiese mit mitten in der Nacht aus dem Mühlviertel gelieferten Granitblöcken, die Anwohnern und Helfern dramatische Stunden bereitet hatte.
„Honeymoon in Ottensheim“ erinnert an die große Solidarität und Hilfe und geht der Frage nach, ob der Zusammenhalt im Ort langfristig angehalten hat.
Auf der Homepage fanden sich zudem zahlreiche vertiefende Informationen, Fotos und Filme sowie ein kurzer Abriss über die Hochwassergeschichte von Ottensheim.
Wesentliches Element war der Serviceteil. Bewohner:innen hochwassergefährdeter Gebiete fanden dort zahlreiche Tipps und Empfehlungen zur Vermeidung von Schäden bei zukünftigen Hochwässern: vom Zivilschutz-SMS über Maßnahmen zur Vermeidung der Kellerüberflutung durch Rückstau aus dem Kanal bis hin zu baulichen Maßnahmen überflutungsgefährdeter Gebäude. Ergänzt wurde diese um eine Liste von Telefonnummern und Informationsquellen im Hochwasserfall.
Die Reportage wurde im Juni 2014 auf hochwasser.ottensheim.at veröffentlicht, ist aufgrund von Virenangriffen aber nicht mehr online.